Mein Bruder und ich besitzen ganz unterschiedliche Ansätze, bei meist ähnlichen Absichten. Das war schon immer so. Schon in unserer Kindheit. Die Psychologie meint, im Spiel setzt sich das Kind intensiv mit sich selbst und seiner Umwelt auseinander. Mein Bruder tat das mit Dinosauriern und barbarischen He-Man-Figuren vom Barbie-Hersteller Mattel (wer in den Achtzigerjahren Elternteil war, wird sich mit Schaudern zurückerinnern), ich mit bravem Legostein, poppig-buntem Playmobil und einer elektrischen Gartenbahn. Als Teenie war mein Bruder in die coole platinblonde Kim Wilde verknallt, ich in die melancholische Chanteuse Patricia Kaas, natürlich auch blond.
Als Gymnasiasten ergriff uns beide Anfang der Neunziger die Sorge um den Klimawandel. Wir suchten nach Lösungen, kauften schon vor 29 Jahren ein kleines Elektroauto. Bald aber trennten sich unsere Wege. Er verfiel der Naturwissenschaft, ich studierte an einer Filmhochschule und zog nach Berlin, mein Bruder in ein Dorf mit 700 Einwohnern am Fuß der Schwäbischen Alb. Das war der Zeitpunkt, als wir öfters zu streiten begannen. Uns war beiden klar, es muss dringend mehr Klimaschutz stattfinden.
Unsere Dusche verbraucht nur drei Liter Wasser pro Minute
Aber mein Bruder wollte sich in seinen Lebensgewohnheiten nicht umstellen und beschränken, bei mir war genau das ein Ansatz zur Lösung. Bei ihm sollte es die Technik und der Markt regeln, ich setzte auf Wissen und Vernunft. Heute, nach über 30 Jahren Einsatz gegen den Klimawandel, möchte ich einen Vergleich anstellen: Welches der beiden Konzepte hat zu mehr Klimaschutz geführt? Fangen wir bei mir an. Meine Frau und ich wohnen nach dem Auszug unserer Tochter jetzt zu zweit in einer 68-Quadratmeter-Mietwohnung. Wärme und Warmwasser wird bei uns noch von dreckigem Öl produziert.
Allerdings haben wir im Winter in allen Zimmern die Thermostate auf nicht mehr als 18 Grad eingestellt und besitzen eine sehr sparsame Duscharmatur, eine Badewanne ohnehin nicht. Unsere Dusche verbraucht nur drei Liter Wasser pro Minute, statt den üblichen bis zu 18. Das spart neben Wasser vor allem CO2, denn das Warmwasser wird auch von der Ölheizung erhitzt.
Wir konsumieren viel: Natur, Kultur und Stille
Gut 400 Kilogramm ersparen wir so der Atmosphäre an CO2 pro Jahr. Klingt gut, aber insgesamt sind es ein Ölverbrauch von etwa 680 Litern oder umgerechnet zwei Tonnen CO2. Dafür ist unser Strom seit 20 Jahren Ökostrom. Mobilität ist bei uns autofrei, geflogen bin ich erst einmal in meinem Leben, wir bewegen uns mit Tretroller und Fahrrad vorwärts, leihen manchmal das E-Lastenrad der nahen Kirchengemeinde aus und fahren weitere Strecken mit dem Nahverkehr und dem ICE. Fleisch essen wir seit Jahren nicht mehr, mittlerweile ist der Weg in Richtung vegan eingeschlagen.
Das meiste davon ist in Bio-Qualität, oft auch saisonal und regional. Wir konsumieren viel: Natur, Kultur und Stille, Wissen und soziale Beziehungen; aber weniger materielle Dinge, mein Smartphone ist beispielsweise eine Dekade alt. Das alles bringt uns laut Rechner vom Bundesumweltamt (UBA) einen CO2-Ausstoß von vier Tonnen pro Person ein. Mein Bruder hat lange Zeit für mehr Klimaschutz nichts verändert.
Elektroautos und Photovoltaikanlage
Die klimaschützende Technik, auf die er setzte, wurde einfach nicht entwickelt und von der Politik wurden keine Anreize unternommen, damit Unternehmen es tun. Doch in den letzten Jahren hat er mächtig investiert. Auf sein Haus setzte er eine große Photovoltaikanlage, er hat eine Luftwärmepumpe und einen Pelletkessel statt der Ölheizung eingebaut und seine zwei Verbrennerfahrzeuge tauschte er gegen Elektroautos.
So reduzierte er die CO2-Emissionen für Wärme und Warmwasser um rund 60 Prozent, auf noch gut vier Tonnen. In seinem 185 Quadratmeter großen Haus lebt er mit seiner Frau und zwei seiner Kinder. Vier Tonnen durch vier Personen macht eine Tonne für Wärme und Wasser pro Person, also gleich viel wie bei uns, die wir diese Summe durch Sparen und mit einer Ölheizung erreichen – aber auch mit nur 18 Grad im Winter.
1,2 Tonnen CO2 pro Jahr
Zumindest privat fliegt mein Bruder ebenfalls nicht. Seine Familie unternimmt fast alle anfallenden Fahrten mit ihren beiden Elektroautos, einem Kleinwagen und einem SUV. Die Herstellung eines E-Kleinwagen benötigt bis zu elf Tonnen CO2, ein SUV liegt noch einmal um ein paar Tonnen darüber. Zwölf Jahre werden Autos durchschnittlich in Deutschland gefahren, bis sie verschrottet werden. Das sind allein für die Herstellung der beiden E-Autos zwei Tonnen pro Jahr, die für die CO2-Rechnung der Familie meines Bruders anfallen.
Das österreichische UBA setzt 80 Gramm CO2 pro Kilometer für ein mit Ökostrom geladenes mittelgroßes E-Auto an, inklusive Verbrauch, Herstellung, Verschrottung und notwendiger Infrastruktur – beim ICE sind es 40 Gramm. In der Summe entstehen so für meinen Bruder 1,2 Tonnen pro Jahr. Bei mir und meiner Rad- und Zug-Nutzung veranschlagt der UBA-Rechner 0,35 Tonnen. Die zurückgelegten Gesamtkilometer sind aber auch ein wenig geringer.
Am Ende steht der Messzeiger bei meinem Bruder bei 6,1 Tonnen
Auch deshalb, weil in der Stadt die Wege meist kürzer sind als auf dem Land. Zum Nichtverzichtbaren gehört bei meinem Bruder Fleisch. Wer aber ohne Fleisch auskommt, erspart der Atmosphäre eine halbe Tonne CO2 und den Tieren viel Leid. Die Familie meines Bruders kauft bevorzugt beim Discounter im Nachbarort ein, Bioprodukte gibt es dort wenige. Auch das allgemeine Konsumverhalten sieht bei ihm und seiner Familie ganz anders aus als bei uns.
Aber kürzen wir es ab: Am Ende steht der Messzeiger bei meinem Bruder bei 6,1 Tonnen auf der CO2-Skala des UBA-Rechners. Zwei Tonnen mehr als bei mir. Sind seine 6,1 Tonnen mit technischem Fortschritt reduzierbar? Die Herstellung von E-Autos wird in den nächsten Jahren grüner werden. Die EnBW geht von 10 Prozent Reduktion bis 2030 aus. Seine vier Tonnen für Wärme und Warmwasser wird mein Bruder durch Gebäudeisolation und neueren Heizkörpern im besten Fall auf null senken können. Dass er insgesamt schon bald bei unter fünf Tonnen liegt, halte ich für durchaus realistisch.
Ganz ohne Verzicht geht es nicht
Das würde sich meinem Wert annähern. Aber auch mein Vermieter wird die Heizung in unserer Mietwohnung wahrscheinlich bald erneuern (müssen), was meiner persönlichen Rechnung mindestens 0,7 Tonnen erspart. Also 3,3 zu etwa 4,8 Tonnen. Das Ergebnis überrascht mich. Es liegt näher zusammen als vermutet. Anderseits ist die gute Tonne mehr an CO2 auch das größte Problem meines Bruders. Von meinen dann gut drei Tonnen sind fast eine Tonne öffentliche Emissionen (Verwaltung, Bildungseinrichtungen, Abfallentsorgung), die die Gesellschaft in den nächsten Jahren auf annähernd null fahren muss und damit aus meiner Rechnung herausfallen.
Auch die CO2-Emissionen, die in meinen Konsumartikeln stecken, werden weniger werden. So erreiche ich in ein paar Jahren vermutlich die als allgemein verträglich angesehenen 1,5 Tonnen pro Kopf und Jahr. Mein Bruder liegt dann noch bei 3,1. Ob er will oder nicht, er wird dann auf etwas verzichten müssen. Der Verzicht aufs Fleisch (0,5 Tonnen) wird alleine nicht ausreichen. Er muss noch mindestens ein Elektroauto loswerden, um seine persönliche Klimaneutralität zu erreichen. Ganz ohne Verzicht oder Lebensumstellung wird es bei jeder und bei jedem Einzelnen also kaum gelingen.
Jetzt wäre das Ergebnis zwischen uns Brüdern ausgeglichen, beide hätten wir nach vielen Jahren unser gemeinsames Ziel Klimaschutz erreicht. Unser jahrelang schwellende Streit über das Wie könnte zu Ende sein. Doch für das erreichte Ziel werden wir äußerst unterschiedlich viel (grüne) Energie aufgewendet haben. Grüne Energie, die woanders eingesetzt bedeutet hätte, dass die gesamte Gesellschaft schneller klimafreundlich sein würde. Ich befürchte deshalb, die uns erschöpfenden Klima-Diskussionen werden meinem Bruder und mir leider noch erhalten bleiben.
Anmerkung: Wenn im Artikel von CO2 die Rede ist, sind CO2-Äquivalente gemeint.
Achim Michael Hasenberg ist geboren in Hamburg. Der diplomierte Filmregisseur lebt und arbeitet als freier Dozent in Berlin und gründete 2002 die Filmproduktion Filmband. Mit „I Want To Run“ produzierte er 2011 einen der ersten klimaneutralen Kinofilme.
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