Alles begann, als Christopher Trimmel von seinem Tätowierer aufgeforderte wurde, ihm einen Comic-Pinguin zu stechen. Trimmel war damals 20 Jahre alt. Er lebte im Burgenland, spielte nebenbei Fußball in der vierten österreichischen Liga, und eine Kunstakademie hatte ihn gerade abgelehnt. Eigentlich wollte er Kunstlehrer werden. Nie zuvor hatte er selbst tätowiert.
13 Jahre später ist Christopher Trimmel einer der ungewöhnlichsten Profis der Bundesliga. Er führt gewissermaßen ein Doppelleben. Einen Großteil der Woche verdient er sein Geld als Rechtsverteidiger beim 1. FC Union Berlin. In der restlichen Zeit entwirft er eigene Motive, plant Aufträge, muss sich mit Hygienestandards beschäftigen, die in seiner Branche Voraussetzung sind. Trimmel besitzt seit anderthalb Jahren einen Gewerbeschein als mobiler Tätowierer.
Vor Corona fuhr der 33-Jährige noch zur Kundschaft nach Hause. Meistens montags und dienstags stach er selbstentworfene Bilder unter die Haut anderer Leute, am Wochenende spielte er in der Bundesliga. Auch wenn im Moment nur Entwerfen und Organisieren möglich sind, soll es nach Corona weitergehen mit dem Tattoostudio auf Rädern. »Für mich ist das Tätowieren eine riesige Leidenschaft, ebenso groß wie der Fußball. Ich muss das einfach weitermachen und kann das auch gut mit dem Klub in Einklang bringen«, sagt Trimmel im Gespräch mit dem SPIEGEL.
Trimmels Körper selbst ist übersät mit Tattoos. Ein großer, gekrönter Adler, Österreichs Wappentier, prangt auf seiner Brust, sein Rücken und beide Arme sind mit Blüten, Tentakeln und Gesichtern von Kindern verziert. Für ihn sind diese Bilder Kunstwerke anderer Tätowierer. Auf seinem Körper sollen sie ausgestellt werden. Und es gibt da draußen nun Leute, die einen echten Trimmel auf der Haut tragen: Auch Teamkollegen bei Union hat schon tätowiert.
Trimmels Geschichte ist außergewöhnlich, und sie passt gut zu der seines Hauptarbeitgebers. Denn der Vorjahresaufsteiger Union ist gerade der Hingucker der aktuellen Saison.
Der Klub aus dem Berliner Ortsteil Köpenick hat sich in seiner zweiten Erstligaspielzeit zu einem Europapokal-Anwärter entwickelt. Mit 25 Punkten steht Union auf Rang fünf, hat noch kein einziges Spiel gegen ein Team aus der oberen Tabellenhälfte verloren. Und wenn am Abend in der Partie gegen Bayer Leverkusen der nächste Sieg gelingen sollte (20.30 Uhr/Liveticker SPIEGEL.de, Stream: DAZN), rückt Union über Nacht sogar auf einen Champions-League-Platz.
Dieser Drang zur Genauigkeit
Jener Aufschwung hat nicht nur mit Christopher Trimmel zu tun. Aber an ihm lässt sich erzählen, wie sich Union innerhalb von anderthalb Jahren von einem Team mit einer simplen Spielidee zur Überraschungsmannschaft gemausert hat, die nach dem FC Bayern die zweitbeste Offensive der Liga stellt (31 Treffer). Denn Trimmel ist hauptamtlich der beste Standardschütze der Liga – und im europäischen Elitefußball. Laut des Statistik-Anbieters Opta hat Trimmel seit dem Aufstieg Unions im Sommer 2019 elf Treffer durch ruhende Bälle vorbereitet. Das ist nicht nur in der Bundesliga der Spitzenwert, sondern Trimmel liegt auch in allen fünf europäischen Topligen mit großem Abstand vorn. Auf Platz zwei und drei folgen Maximilian Arnold vom VfL Wolfsburg (acht) und Trent-Alexander Arnold vom englischen Meister FC Liverpool (sechs) sowie einige andere Spieler mit sechs Vorlagen.
Die Grundlage für seine Standardstärke ist in gewisser Weise dieselbe, die ihn auch für das Tätowieren prädestiniert, glaubt Trimmel: der Drang zur Genauigkeit und die Disziplin, sie zu üben. »Beim Tätowieren sieht man jeden Fehler. Auch hier geht es um Präzision«, sagt er. Um seine Standards im Spiel punktgenau zu treten, trainiert Trimmel zwei- bis dreimal in der Woche Ecken und Freistöße. Er stellt sich dann oft Plastikmännchen als Mauer auf den Rasen und dahinter ein kleines Eishockeytor. »Von zehn Versuchen müssen dann neun genau im Netz landen«, sagt Trimmel.
Standards sind im modernen Fußball essenziell. In der laufenden Bundesliga-Saison fielen 30,4 Prozent aller Treffer nach ruhenden Bällen (in England und Spanien ist es ähnlich). Aufgrund dieser Wichtigkeit wird das Einlaufverhalten der eigenen Spieler präzise geplant, das Verhalten des Gegners analysiert. Verteidigt das andere Team gegen den Mann oder im Raum? Kommt der Torwart aggressiv heraus, um den Ball abzufangen, oder lässt er sich mit einem geschickten Schritt nach vorn blocken?
All das kann man planen. Wenn dann aber der Freistoß nur um Nuancen zu weit nach hinten getreten wird, ist all die Vorbereitung hinfällig. »Dann müssen die Mitspieler im Anlaufen reagieren. Das mindert die Chance auf ein Tor, denn sie haben nicht mehr das perfekte Timing«, sagt Trimmel. »Meine Aufgabe ist, dass die Kollegen wissen: Wenn der Trimmi den Arm hebt, ist der Ball in fünf Sekunden genau dort, wo er hin soll.«
In der ersten Saison nach dem Aufstieg war Union noch besonders abhängig von Standards. Die Hälfte aller eigenen Treffer fielen so (20 von insgesamt 41). Das lag auch an Stoßstürmer Sebastian Andersson, einem der besten Kopfballspieler der Liga. Nun ist der Schwede aber zum 1. FC Köln gewechselt – und Union hat sich vom Stil der hohen Bälle emanzipiert.
Ein Drittel aller Union-Tore fallen nach Standards
In dieser Saison sind Standards zwar immer noch wichtig für die Köpenicker: Laut Opta hat nur Leverkusen (13) mehr Treffer nach Ecken, Freistößen oder durch Elfmeter erzielt als Union (zwölf). Mit Abwehrmann Marvin Friedrich befindet sich zudem der Spieler mit den meisten Kopfballtreffern im Kader (neben Robert Lewandowski, beide vier Treffer). Aber die Tore nach ruhenden Bällen machen nur noch etwas mehr als ein Drittel aller eigenen Treffer aus (31).
Das liegt zum einen am derzeit verletzten, neuen Starspieler Max Kruse, der die Pässe anders als Anderssson nicht auf den Kopf, sondern in den Fuß gespielt haben will. Aber es hat auch mit einer grundsätzlichen Neuausrichtung auf das Kombinationsspiel und das schnelle Umschalten zu tun: Mit Sheraldo Becker verfügt Union über einen der schnellsten Spieler der Liga (35,27 Km/h Spitzengeschwindigkeit), mit der Liverpooler Leihgabe Taiwo Awoniyi über einen geschmeidigen, torgefährlichen Angreifer, der in den vergangenen sechs Partien an fünf Treffern direkt beteiligt war. »Wir haben uns spielerisch extrem weiterentwickel«, sagt Trimmel.
Die Statistik-Plattform understat erhebt die sogenannten »expected Goals« eines Teams. Dabei wird ermittelt, wie wahrscheinlich ein Tor nach einem Versuch von einem bestimmten Punkt auf dem Spielfeld ist. Und auf Grundlage dessen wird errechnet, wie viele Saisontreffer ein Team laut Wahrscheinlichkeit haben müsste: Union steht hier bei 21,83 »expected Goals«, hat real aber neun Tore mehr erzielt. Das könnte dazu verleiten, Unions Erfolg als Glück zu verbucht. Aber der Eindruck täuscht. Denn bei den »expected Goals against«, also den wahrscheinlichen Gegentreffern, haben die Berliner mehr kassiert als eigentlich wahrscheinlich gewesen wären.
Basierend auf den wahrscheinlichen Toren und Gegentoren errechnet man die »expected Points«, und da steht Union bei 24,75. Tatsächlich erspielt haben sich die Berliner 25. Union ist also wohl so gut, wie der Klub gerade in der Tabelle steht. »Es fühlt sich so an, als stünden wir absolut verdient dort oben, auch wenn bei uns keiner das Träumen anfängt«, sagt Trimmel.
Nach seiner allerersten eigenen Tätowierererfahrung mit 20 wechselte er übrigens zur zweiten Mannschaft von Rapid Wien, zunächst nur, um sich sein Studium zu finanzieren (Lehramt Sport und Geografie). Doch er stieg schnell ins erste Team auf, erzielte als Stürmer mal den bis heute zweitschnellsten Hattrick der österreichischen Bundesliga-Geschichte und wurde dann zum Rechtsverteidiger umgeschult. Ohne je in einem Nachwuchsleistungszentrum gewesen zu sein, wechselte er 2014 zu Union und sagt: »Der Klub ist seitdem von Jahr zu Jahr ein Stück gewachsen – und ich bin eigentlich jedes Jahr ein bisschen mitgewachsen.«
Christopher Trimmel wird im Februar 34 Jahre alt. Seine Fußballerkarriere befindet sich auf der Zielgeraden. Sein Doppelleben wird bald enden und er wird dann nur noch Tätowierer sein. Nach dem gestochenen Comic-Pinguin habe er gewusst, dass er eines Tages Tätowierer sein werde, sagt Trimmel. Er betont das: Nicht, dass er es sein möchte, sondern dass er es sein werde. Seine Pläne waren damals schon präzise.
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