Guten Aufführungen gelingt es, die Entgrenzung guter Musik von einem bloßen Klangverlauf zu jener emotionalen Wahrheit, die die Summe der Einzeltöne übersteigt, unmittelbar erlebbar zu machen. Alfred Brendel hat das, über sechs Jahrzehnte hin, besonders in seiner enorm umfangreichen Diskographie, sehr oft vermocht. Er führt dann das Hören in Richtungen, derer man noch Sekunden vorher nicht gewärtig war oder die sich allenfalls schattenhaft andeuteten. So, wenn in Franz Schuberts A-Dur-Sonate D 958 die Antwort auf die wuchtigen Eingangsakkorde, eine herabtaumelnde, unsicher trittsuchende Triolenkette, einige Takte später wie ihr eigenes, sanft entrücktes Spiegelbild erscheint, in dem man nun, weil der Blickwinkel ein anderer ist, mehr sehen kann als beim direkten Blick auf das Objekt, dessen Konturen aber gleichzeitig weicher, schwingender, umarmender werden: ein Fenster, das sich in eine sanftblau verschwimmende Ferne öffnet. Längst nicht jeder Interpret liest das aus den Noten heraus; und nicht jeder, der es vermag, kann es so in Klang umsetzen wie Brendel. Wenn sich der Pianist und Schubert begegnen, gibt es immer wieder solche Momente eindringender Verwandlung – so in Schuberts früherer und novellenhafterer Sonate in der gleichen Tonart (D 664) die Transzendierung des Seitenthemas im Kopfsatz zu einem fern aufstrahlenden Klangbild schwärmerisch-inbrünstiger Sehnsucht.
Was beide so innig verbindet, sind die Farben des Instruments, die sich nicht nur mit den Registern, sondern schon mit jedem Harmoniewechsel ändern, wenn man eine solche, in ihrem Einsatz völlig natürlich und unartifiziell wirkende Anschlagskultur besitzt wie Brendel. Poetisch inspiriert, behandelt er das Klavier weniger wie ein amputiertes Orchester, sondern eher als eine gleichsam jugendliche Keimform großer Klangtotalen, in der alle Möglichkeiten vorhanden sind, ohne dass sie jedes Mal explizit ausgespielt werden müssen: Utopie statt Reduktion.
Immer fluid und neuen Erfahrungen offen
Dieser atmosphärische Zauber, wo verschiedene Tönungen ein gedämpft glitzerndes und zärtlich verwobenes Mosaik zusammenfügen, mag dem Künstler in den fünfziger und sechziger Jahren zuerst bei Franz Liszt begegnet sein, der ihn nicht nur als Geläufigkeits-Feuerwerker, sondern vor allem als Klangbildner interessierte. Mit Beethoven, Mozart, Schubert und Haydn formierte sich für den in Mähren geborenen und seit 1970 in London lebenden Künstler dann schrittweise ein streng gewählter und enggefasster Kreis von Lieblingen, in dessen akribische Durchdringung auch scheinbare Nebenwerke eingeschlossen wurden. Bei Beethoven etwa also nicht nur die Konzerte und Sonaten, sondern tatsächlich das komplette Klavierwerk – um den hohen Preis, dass andererseits ganze Blöcke des Tastenrepertoires links liegenblieben.
Dafür lässt sich im Wachsen seiner enzyklopädischen Serien miterleben, wie die Brendel’sche Verlebendigung, das Heranzoomen an Struktur und Geist der Werke, nie zum Dogma wird, sondern immer fluid und neuen Erfahrungen offenbleibt. So kann man wählen, ob man etwa – wieder bei Schubert – unter den Angeboten zum Finale der c-moll-Sonate D 958 die durchweg von einer süß-tiefen, beklommen traumeswirren Verstörung getriebene Aufnahme von 1972 oder die härter konturierte, noch illusionslosere von 1987, flackernd zwischen todesängstlich gepresster Hatz und wahnhaft unterhöhlter Euphorie, wählt.
Besinnung auf den kommunikativen Kern des Musikmachens
Das zu entdecken und sogleich in solchen Dimensionen auszuschöpfen war vor einem halben Jahrhundert durchaus noch eine Pionierleistung. Brendels Erinnerung, dass Otto Erich Deutsch, immerhin Verfasser des bis heute gültigen Schubert-Werkverzeichnisses, eben jene c-moll-Sonate in den sechziger Jahren – von ihm aufgeführt – überhaupt das erste Mal klingend gehört habe, sagt genug über das Schubert-Elend, das damals geherrscht haben muss. Die Neugier aber, hier voranzugehen (und im Gegenzug die selbstbewusste Beschränkung, anderes komplett zu ignorieren), war eine frühe Ausdrucksform jener vielseitigen, weit ausgreifenden und längst nicht nur musikalisch interessierten Intellektualität, die das Leben des Künstlers und seine öffentliche Präsenz eben nicht nur in Klangereignissen, sondern beispielsweise auch als Wort-Poet in zahlreichen Gedichten, in musikhistorischen Essays und Vorträgen bestimmt – über seine 2008 beendete aktiv-pianistische Zeit hinaus bis heute (F.A.Z. vom 30. November 2020), oder im intensiven Dialog mit Peter Gülke über „Die Kunst des Interpretierens“ (kürzlich erschienen bei Bärenreiter/Metzler).
Brendels Geburtsdatum liegt nicht weit von dem seiner Kollegen Friedrich Gulda und Glenn Gould: drei Pianistenpersönlichkeiten, die man auch schon in den Siebzigern, als alle drei noch lebten, nur schwer zusammengedacht hätte. Jetzt, mit dem Abstand eines halben Jahrhunderts, scheint es so, dass Gulda und Gould für eine Generation von Pianisten standen, die im unbefangen-respektlosen, manchmal ironischen Befragen der Klassiker frischen Wind durch die Konzertsäle wehen ließ; und dass Brendels wägendes und apollinisch entspanntes Ebenmaß, seine von aufgedonnertem Pathos wie unterkühlter Mechanik gleich weit entfernte Balance aus empfindsamer Reizbarkeit und sich frei öffnender Entspannung, schon damals die notwendige Ergänzung dazu formulierte: einen behutsamen Konservativismus, der immer einen Rest skeptischen Abstands behält – nicht zuletzt von der eigenen Person.
In einer Gegenwart, wo Kultur als humanes Verständigungsmedium von vielen Seiten her massiv in Frage gestellt wird, dürfen wir ihm für diese Besinnung auf den kommunikativen Kern des Musikmachens umso mehr dankbar sein. An diesem Dienstag wird Alfred Brendel neunzig Jahre alt.
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