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Automatisiertes Fahren stellt nur eine Komfortfunktion dar, sagt Peter Liggesmeyer. Der Informatik-Professor und Leiter des Fraunhofer IESE erklärt im Interview auch, warum autonome Systeme nicht intelligent sind.
Herr Professor Liggesmeyer, Sie sind Informatik-Professor an der TU Kaiserslautern und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern. Dort beschäftigt man sich unter anderem mit "autonomen Systemen". Was wird bei Ihnen im Bereich Mobilität aktuell erforscht?
Eines unserer übergeordneten Forschungsthemen – das natürlich auch im Kontext rund um autonomes Fahren eine wichtige Rolle spielt – ist "Dependable AI", also die verlässliche KI. Dabei geht es grundsätzlich um die Frage, wie KI-Systeme so entwickelt werden können, dass sie zwar unsichere Teilkomponenten enthalten, in Gänze aber dennoch verlässlich sind. Gerade beim autonomen Fahren haben wir es ja mit einem erheblichen Maß an Unsicherheiten zu tun; viele Verkehrssituationen sind bereits für Menschen schwer beherrschbar – geschweige denn für autonome Systeme. Entsprechend werden an autonome Fahrsysteme auch eine Vielzahl an Herausforderungen gestellt, die sie zumindest zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht alle bewältigen können. Und genau hier setzen wir an und erforschen, wie autonome Fahrzeuge sicher und dennoch flexibel konzipiert werden können.
Im Sprachgebrauch jenseits von Forschung und Entwicklung verwischen die Unterschiede zwischen automatisiert, hochautomatisiert und autonom. Wie sinnvoll ist die Unterscheidung und könnte man es für den Bereich Mobilität einfacher definieren?
Tatsächlich werden die Begriffe automatisiert und autonom häufig synonym verwendet. Dabei ist eine klare Unterscheidung unerlässlich; ohne sie kann etwa auch nicht nachvollzogen werden, wo genau die Herausforderungen im Hinblick auf die Entwicklung autonomer Systeme liegen. Sowohl der Begriff "autonom" als auch der Begriff "vollautomatisiert" beziehen sich darauf, dass etwas zielgerichtet und ohne menschliches Zutun funktioniert. Während wir bei automatisierten Prozessen aber genau wissen, wie sich ein System in einer bestimmten Situation verhält, können wir dies bei einem autonomen System nicht zu 100 Prozent vorhersagen. Fälschlicherweise wird autonomen Systemen entsprechend oft die Fähigkeit eines intelligenten Handelns zugesprochen, obwohl dies nicht der Fall ist. Von wirklicher Intelligenz kann im Zusammenhang mit autonomen Systemen nämlich im eigentlichen Sinne keine Rede sein.
Sie als Forscher am IESE sprechen in diesem Zusammenhang auch von "Verlässlichkeit", was hat es damit auf sich?
Wie bereits erwähnt, geht es bei der Entwicklung verlässlicher KI-Systeme darum, diese so zu konzipieren, dass sie gewisse Eigenschaften in einer guten Balance halten. Sicherheit ist eine dieser Eigenschaften; Verfügbarkeit eine andere. Ein System soll weder unsicher betrieben werden, noch ständig abschalten. Es bedarf also einer Art Kontrollmechanismus, der sich um diese Aspekte kümmert. Wir am Fraunhofer IESE befassen uns mit dem Engineering dieser verlässlichen KI-Systeme: von der Entwicklung entsprechender Methoden bis zur Validierung der Systeme unter Beachtung gesetzlicher Vorgaben.
Welche Vor- und Nachteile sehen Sie im Einsatz autonomer Systeme in den Bereichen Mobilität, Landwirtschaft oder Produktion, um ein paar Anwendungsbeispiele zu geben?
Um es an dieser Stelle ganz klar zu sagen: Im Gegensatz zu einigen anderen Anwendungsbereichen ist gerade der Mobilitätssektor die Branche, in der der Einsatz autonomer Systeme nicht zwingend ist. Fahrzeuge jeglicher Art können seit jeher von Menschen bedient werden; Autonomie ist hier eine Komfortfunktion. Umgekehrt gibt es aber auch Einsatzgebiete, die der Mensch perspektivisch nicht mehr wird bearbeiten können – zum Beispiel die aktuell entstehenden Systeme zur Erzeugung und Verteilung elektrischer Energie. Soll die Energiewende gelingen und die Stromversorgung vollständig auf regenerative Energiequellen umgestellt werden, so ist der Einsatz autonomer Netzsteuerungssysteme unabdingbar. Angesichts der Unübersichtlichkeit der Netze und der Abhängigkeit von nicht beeinflussbaren Faktoren wie Sonnenschein und Wind kann der Mensch die Steuerung der "grünen" Energiesysteme schlichtweg nicht übernehmen.
Ein mindestens ebenso großes Potenzial sehen wir auch für den Einsatz autonomer Systeme im industriellen Kontext. Obwohl das Thema Industrie 4.0 zwar in aller Munde ist, ist die Mehrheit der Unternehmen hierzulande noch weit von einer echten wandelbaren Produktion entfernt. Dabei bietet die Entwicklung verlässlicher autonomer Systeme hier vor allem volkswirtschaftlich betrachtet für Deutschland eine enorme Chance, um international langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Bundesrepublik sollte den Wandel hin zur Industrie 4.0 daher dringend noch wesentlich stärker vorantreiben als bisher.
Sie sagen von sich selbst, dass sie sich gerne mit "realen Fragestellungen" befassen. Derzeit gibt es eine Debatte um einen Gesetzentwurf von Bundesverkehrsminister Scheuer, der schon 2022 den Betrieb von "Kraftfahrzeugen mit autonomer Fahrfunktion" auf öffentlichen Straßen erlauben soll. Was halten Sie davon?
Natürlich ist es begrüßenswert, wenn die Politik frühzeitig die rechtlichen Rahmenbedingungen für innovative Lösungen – wie autonomes Fahren – schafft. Das gilt auch für den Gesetzentwurf von Herrn Scheuer. Es ist aber völlig irrational anzunehmen, dass in fünf Jahren ein Fahrzeug voll-autonom durch eine deutsche Innenstadt so fahren wird, dass die Passagiere mit dem Fahrverhalten zufrieden sein werden. Das Verkehrsgeschehen ist hierbei viel zu komplex als dass auf Basis des derzeitigen Standes der Technik ein gleichzeitig hochverfügbares und sicheres autonomes Fahrzeug entwickelt werden könnte.
Auch OEMs treiben die Diskussion voran. Volkswagen vermeldete erst kürzlich, bis 2025 einen autonomen Ride-Hailing-Service anbieten zu wollen. Welche Hinderungsgründe sehen sie in solchen Vorhaben?
Das Problem, das wir derzeit sehen, ist folgendes: Autonome Fahrzeuge sind aktuell noch so konzipiert, dass sie schwierigen Verkehrssituationen quasi "ausweichen" – und an der Seite heranfahren. Damit ist jedoch nichts gewonnen, denn: Oftmals wird ein Verkehrsgeschehen schon dann als heikel eingestuft, wenn ein Mensch damit noch völlig problemlos zurecht käme. Ein echter Vorteil von autonomer Fahrzeugtechnik wird vor diesem Hintergrund also noch nicht ersichtlich. Was wir in Zukunft jedoch benötigen, ist eine entsprechende Balance zwischen den Faktoren "Sicherheit" und "Verfügbarkeit". Ein autonomes Fahrzeug muss so verlässlich fahren können, dass es ein menschliches Eingreifen nicht mehr benötigt und fast immer mit dem Verkehrsgeschehen so zurechtkommt, dass es nicht anhalten muss. Nur dann werden wir auch von einem echten innovativen Vorteil sprechen können.
Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang digitale Ökosysteme und die zuvor erwähnte "Verlässlichkeit"?
Soll die Eigenschaft "Verlässlichkeit" in dem beschriebenen Sinne gewährleistet werden, so wird autonomes Fahren in absehbarer Zeit nur innerhalb sogenannter "Inseln reduzierter Komplexität" möglich sein. Dabei handelt es sich um Einsatzbereiche, die weniger kompliziert sind. Die Rede ist beispielsweise von Autobahnen oder Parkhäusern.
Als Wissenschaftler arbeiten sie auch daran, die Markteinführung autonomer Systeme voranzutreiben. Welchen Zeitraum würden Sie für die Einführung des autonomen Fahrens auf Level 4 veranschlagen?
Auf den beschriebenen Inseln reduzierter Komplexität werden wir autonomes Fahren auf Level 4 recht bald haben. Wann das in der vollen Komplexität innerstädtischen Verkehrs möglich sein wird, kann nach meiner Überzeugung niemand aktuell wirklich verlässlich abschätzen.
Immer wieder wird der Einsatz von künstlicher Intelligenz vorgebracht, um den Einsatz von autonomen Systemen zu beschleunigen und zu unterstützen. Inwieweit ist die Hoffnung auf KI berechtigt?
Das, was derzeit unter künstlicher Intelligenz verstanden wird, weckt bereits von Vornherein falsche Erwartungen. Von Intelligenz im menschlichen Sinne kann wohl aktuell keine Rede sein. Maschinelle Lernverfahren bilden einen Teil der KI, der mit anderen Technologien kombiniert werden muss, um eine Chance zu haben, die Erwartungen zu erfüllen. Ob das tatsächlich gelingen wird, ist – wie bei jeder echten Forschung – nicht von vornherein sicherzustellen.
Herzlichen Dank für das Interview!
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