
Peter Kurth als Kommissar Koitzsch: »Pornoheft im Bad. Sehr harmlos.«
Foto: Felix Abrah / MDRWas vom Leben übrig bleibt, wenn die Polizei sich in der Wohnung eines Mordopfers umschaut? »Pornoheft im Bad«, spricht der Kommissar in sein Diktafon. Dann blättert er ein wenig in dem Heft und fügt im Kennertonfall hinzu: »Na ja, eher harmlos.« Schließlich geht er ins Schlafzimmer, setzt sich aufs Bett und wippt darauf herum, bis die Stahlfedern quietschen. Wieder Kennertonfall: »Der schlief hier allein. Nacht für Nacht.«
Impertinenz und Voyeurismus gelten unter Ermittlern als Berufskrankheit. Beidem gibt sich Kriminalhauptkommissar Henry Koitzsch (Peter Kurth) während der Wohnungsbesichtigung fast wollüstig hin. Er hat ja sonst nichts – außer seinem Alkoholismus und ein paar alten Bordellbekanntschaften.
Koitzsch, Ende 50, ist ein Ermittlerwolf alter Schule. Bei seinen Recherchen vor Ort spricht er in ein altertümliches Gerät mit Kassettenbetrieb; die Amtsstube in Halle an der Saale, in der er mit seinem Kollegen Michael Lehmann (Peter Schneider), Ende 40, hockt, ist im Vorwende-Stil eingerichtet. Man glaubt, den Filterkaffee riechen zu können.

Koitzsch mit dem Kollegen Lehmann (Peter Schneider): alte Kulissen, alte Lieder, alte Helden
Foto: Felix Abrah / MDRDie Boomer sind wieder da. Radio Bremen schickte letzte Woche ein »Tatort«-Team zwischen Anfang 30 und Anfang 40 an den Start, der neue »Polizeiruf« aus Halle setzt wieder auf die Jahrgangskohorten davor. Auch das ist ein Statement. Zumal dieser »Polizeiruf« ein besonderer ist: Mit ihm wird das 50-jährige Bestehen des Krimi-Klassikers gefeiert, der im DDR-Fernsehen seinen Ursprung nahm. Er war damals als Antwort auf den »Tatort« gedacht, der ein Jahr zuvor gestartet war und sich auch im Osten großer Beliebtheit erfreute.
Ost-Stars inklusive
Ein Jahr nach dem »Tatort« feiert nun eben der »Polizeiruf« sein Jubiläum. Und es ist beachtlich, wie hier jede Zeitgeistzappelei vermieden wird. Stattdessen gelangen die Verantwortlichen aus der Tiefe der Geschichte heraus zu einem zum Teil atemberaubenden Neuentwurf des Ost-Klassikers, Ost-Biografien und Ost-Stars inklusive.
Und das funktioniert so: Das Mordopfer wurde direkt vor der Haustür erstochen, und weil es keine Zeuginnen und Zeugen gibt, bestellen die Kommissare einen bunten Haufen von Menschen zur Befragung ein, die sich zur Tatzeit in der Nähe aufgehalten haben. Funkzellenauswertung macht es möglich.
Wie sich an dieser Stelle auf einmal das rustikale Behörden-Setting öffnet, und wie wir aus der Erzählung der verschiedenen Zeugen heraus in deren Biografien abtauchen, das hat man selten zuvor im Fernsehkrimi gesehen: Wir irren mit einem pensionierten Eisenbahner (Hermann Beyer) über nächtliche Gleise und hören mit ihm eine Schallplatte, auf der die schönsten Dampflockgeräusche der abgewickelten Reichsbahn zu hören sind. Oder wir begleiten eine lebenshungrige Kellnerin (Cordelia Wege) durch ihr komplexes Liebesleben, das sie mit drei sehr unterschiedlichen Männern perfekt ausbalanciert hat.
Auf einmal erklingt Offenbach
Die Liebe, der Tod und das lange Leben dazwischen: Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer fügt diese verschiedenen biografischen Schnipsel zu einem großen Panorama zusammen. Regisseur und Co-Autor Thomas Stuber, ebenfalls in Leipzig geboren, lässt die Geschichte der Figuren kunstvoll ineinander laufen. Grandios ist, wie schnell er aus der schmucklosen Revierkulisse in den Horror oder die Magie des Alltags seiner Protagonisten schaltet. Als die lebensfrohe Kellnerin etwa vom Rausch der Oper spricht, fällt auf einmal ein warmer Glanz in die Amtsstube und eine Operette von Jacques Offenbach erklingt.
Meyer und Stuber arbeiten mit allem, was der Fundus hergibt: alte Kulissen, alte Lieder, alte Helden. Ihr »Polizeiruf« könnte aber nicht frischer sein. Zuvor haben die beiden schon gemeinsam für den Hessischen Rundfunk einen »Tatort« gedreht, für den sie einen alten John-Wayne-Western nachbauten.

Auch ihr neuer Krimi ist voller historischer Anspielungen. Einmal taucht der legendäre »Polizeiruf«-Ermittler Thomas Grawe auf, den Andreas Schmidt-Schaller von 1986 bis 1995 verkörperte. Wegen seines verhältnismäßig unkonventionellen Auftretens wurde er auch »Schimanksi des Ostens« genannt. Als Schmidt-Schaller in der Grawe-Rolle nun mit Wichtigtuern konfrontiert wird, die sich bei der Zeugenbefragung in den Vordergrund spielen wollen, klagt er im Wendemuffeljargon: »Gab's früher nicht. Ging erst 1990 los, weil die Verrückten alle ins Fernsehen wollten.«
Große Sehnsucht statt Graubrot
30 Jahre nach der Wiedervereinigung und 50 Jahre nach der ersten Folge finden die Schöpfer dieses Jubiläums-»Polizeirufs« einen erstaunlich leichten Tonfall. Sie spülen das Gefühlsgeröll der Geschichte hoch, ohne ihre Charaktere damit zu erschlagen. Wie satt das Leben in diesem Krimi doch gezeichnet ist! Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil Halle in der »Polizeiruf«-Topografie ja vor allem durch die Kommissare Schmücke und Schneider vermerkt ist, die dort zwischen 1996 und 2013 das Graubrot-Duo unter den Fernsehermittlern darstellten.
Im neuen Halle-Revier gibt es nun etliche Verweise auf das barocke, halbkriminelle, rotlichtselige Vorleben des Kommissar Koitzsch. In einer Szene versucht er bei einem desolaten Blind-Date eine Lehrerin mit einem abgegriffenen Heine-Zitat klarzumachen. Erbärmlich. Am nächsten Morgen liegen die beiden Endfuffziger trotzdem zwischen Weinflaschen und Zigarettenkippen nackig in den zerknautschten Laken.
Die Boomer geben noch mal Gas, so kann man das goldene Jubiläum natürlich auch begehen.
Bewertung: 8 von 10 Punkten
»Polizeiruf: An der Saale hellem Strande«, Sonntag, 20.15 Uhr, Das Erste
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