Wenn man eine Liebesszene in einem Film visuell entlang der Metapher „Als wir uns das erste Mal erblickten, blieb die Zeit stehen“ gestaltet, läuft man höchste Gefahr, Kitsch zu produzieren. Erst recht, wenn die Szene zu einer Musicalverfilmung gehört. Es braucht einen Steven Spielberg, um die Gefahr zu umschiffen. Der lässt in seiner Kinoversion des Musicalklassikers „West Side Story“ das Liebespaar Maria (Rachel Zegler) und Tony (Ansel Elgort) im entscheidenden Moment an entgegengesetzten Enden der Tanzfläche einander erblicken. Statt dass nun die Zeit einfröre oder die anderen Tanzenden um sie herum im Weichzeichner verschwänden, wie das Filmoriginal aus dem Jahr 1961 die Aufgabe der Darstellung gemeinsamer Entrückung löste, beschleunigt Spielberg das Tempo der wirbelnden Paare. Tänzerinnen ziehen in buntem Rüschenrauschen vorbei, Lichtreflexe blenden die Kameralinse, so dass man meint, hinter Maria und Tony seien Sterne vom Himmel gefallen. Auch das steht sehr kurz vorm Kitsch. Die beiden Neuverliebten jedoch verfallen nicht in die Starre von Nippesfigürchen, sondern bewegen sich langsam durchs Partygewühl aufeinander zu, und man möchte im Kino kurz zurückspulen, um zu begreifen, mit welcher Massenchoreographie all die ungleichzeitigen Bewegungsabläufe arrangiert wurden.
Spielberg weiß, dass er heutigem Publikum mehr Tempo zumuten kann, als den Zuschauern des Originalfilms Mitte des vergangenen Jahrhunderts nachvollziehbar war. Er nutzt die veränderten Sehgewohnheiten, um aus der Vorlage alles zu entfernen, was fürs Erzählen unnötig ist. Indem er den Figuren so viel Raum wie möglich gibt, nimmt er sogar in Kauf, an der Musik zu sparen: Fünf Minuten Ouvertüre etwa, die in der Erstverfilmung vor Eröffnungstiteln abgespielt werden, entfallen. Stattdessen gibt es mehr Hintergrundgeschichten, selbst für die kleinste Nebenfigur.
So beginnt die Handlung zwar immer noch in der New Yorker Upper West Side, zeigt jedoch die rivalisierenden Banden der puertoricanischstämmigen Sharks und der weißen Jets vor dem Hintergrund der Gentrifizierung des von beiden bewohnten Viertels. Der Kampf der Arbeiterkinder unterschiedlicher Hautfarbe um die Vorherrschaft wird durch eine Abrissbirne, die in einer der ersten Einstellungen des Films das gesamte Bild einnimmt, von Anfang an als sinnlos charakterisiert. Dass er trotzdem stattfindet, liegt in der Natur des Stoffes, der bei Shakespeare geliehenen Geschichte vom Liebespaar, das kein Glück erwarten darf, weil es verfeindeten Familien entstammt; Jerome Robbins, der Ende der Fünfzigerjahre die Idee zu „West Side Story“ hatte, ließ sich von „Romeo und Julia“ inspirieren. Nicht nur Spielberg nimmt nun seine Aufgabe so ernst, als würde er tatsächlich Shakespeare verfilmen, auch die Darsteller tun das.
Rachel Zegler, die hier zum ersten Mal in einem Spielfilm vor der Kamera steht, legt ihre Maria deutlich selbstbewusster an, als es vor sechzig Jahren Natalie Wood wagte. Ihre Maria weiß, worauf sie sich einlässt, als sie den polnischstämmigen Tony direkt beim ersten Tanz zum Abschied küsst. In einem Nebensatz wird sie ihrem großen Bruder, dem Anführer der Sharks, deutlich machen, dass sie sich nach seinem Fortgang aus Puerto Rico seit Jahren um ihren Vater gekümmert hat, Verantwortung für ihr eigenes Leben trägt und keinen Beschützer braucht.
Von solchen Details lebt der Film – und von Rückverweisen wie der Idee, die Figur des gutmütigen Ladenbesitzers Doc mit Rita Moreno zu besetzen, das heißt, nicht ganz: sie spielt die Witwe ebenjenes Ladenbesitzers. Moreno hatte bereits 1961 eine tragende Rolle in „West Side Story“, Anita, Freundin des Shark-Bosses und Schwesternersatz für Maria. Die puertoricanischstämmige Schauspielerin nahm die Chance mit Hingabe wahr; es war das erste Mal, dass man ihr eine Rolle außerhalb des Klischees der exotischen Liebhaberin gab. Natalie Wood, damals bereits Hollywood-Star, wirkte neben ihr fast schon farblos. Moreno erhielt für ihre Darstellung als erste Latina einen Oscar.
Triumph mit fast neunzig Jahren
Mit fast neunzig Jahren erlebt sie jetzt einen weiteren Triumph: Wenn sie mit Tony am runden Bartisch ihres Shops spricht, spielt der ohnehin schon sehr überzeugende Ansel Elgort seinen Part noch etwas wacher, als wüsste er, dass er sich anstrengen muss, um mithalten zu können. Kaum aber denkt man, dieser Film lohne sich vor allem wegen der Schauspieler, winkt Kameramann (und jahrzehntelanger Spielberg-Komplize) Janusz Kamiński mit ein paar Einstellungen, die daran erinnern, dass jeder einzelne Job hier von Personal aus der ersten Liga des Kinos erledigt wird. Kamiński lässt den Blick mal durch blinkende Neonschrift eines Schaufensters ins Zimmer gleiten, fährt den Jugendlichen beim tänzelnden Gang durch die Straßen ohne Schnitt bis auf die Spitze eines Schutthaufens hinterher und zieht in die Vogelperspektive, wenn die Gangs sich zum finalen Kampf zwischen den weißen Bergen eines Streusalzlagers begegnen, wo lange Schatten bedrohlich die Bildmitte zerschneiden – Hommage an frühe Gangsterfilme und deutschen Expressionismus.
Ein paar kleine Zugeständnisse an den Auftraggeber musste Spielberg anscheinend hinnehmen: Hatte Disney zuletzt Zeichentrickklassiker wie „Dumbo“, „Aladdin“ oder „Peter Pan“ mit Warnhinweisen vor rassistischen Inhalten gekennzeichnet, so entschied man sich hier, einige Libretto-Zeilen zu ändern. Im berühmten Klassiker „America“ etwa singt Anita zwar noch immer über die Vorteile ihrer neuen New Yorker Heimat gegenüber Puerto Rico, doch statt der Bevölkerung wachsen nun Ananas auf der Insel, und auch das Lamentieren über ständig wehende Hurrikans wurde gestrichen und zu „blühenden Blüten“ umgedichtet. Über jene Stelle hatte sich Rita Moreno, die sie im Original sang, später beklagt, da sie Stereotype über ihre Heimat verbreitete. Und auch die Figur „Anybodys“, im Original ein Tomboyhaftes Mädchen, das zur Jungsgang der Jets gehören will, bekommt mehr Auftritte und die Zeile: „Ich bin keine Frau.“
Diese minimalen Zeitgeistanpassungen webt Spielberg mühelos ein. Es ist am Ende seinem Können zu verdanken, dass das alte Konzept großer Filmstudios aufgeht, mit der Neuverfilmung eines Klassikers für neues Aufsehen zu sorgen, wenn ein jüngerer Hype (wie zum Beispiel Superheldenfilme) so lange bedient wurde, bis das Publikum beim Trailerschauen nur noch müde gähnt. Tage später noch wacht man auf und ertappt sich, wie man einen Leonard-Bernstein-Song summt.
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