Auf den Zehenspitzen, mit Räuberleitern, oder schlicht zugekniffenen Augen durch einen Schlitz: Dutzende Beobachter versuchten zumindest ein bisschen was von dem zu erhaschen, was Rafael Nadal auf den weitestgehend abgeschotteten Übungsplätzen auf dem Jean-Bouin-Trainingscenter so fabrizierte. Schlicht: Richtig viel sahen die Kiebitze ob des Sichtschutzes unweit der Anlage der French Open nicht.
Das war am Montag vor den Viertelfinals bereits so, als Rafael Nadal, Novak Djokovic und Alexander Zverev Seite an Seite an Feinheiten arbeiteten und es änderte sich auch am Donnerstag nicht. Da waren nur noch der Mallorquiner und das deutsche Aushängeschild des Tennissports nach ihren Statement-Siegen gegen Djokovic und Carlos Alcaraz übriggeblieben. Nadal, das ist seit Jahren seine Handhabe, geht seinen Gegnern vor einem Duell nach Möglichkeit aus dem Weg. Das ist auf dem recht überschaubaren Jean-Bouin-Trainingsgelände aber gar nicht so leicht. Also startete Nadal die Trainingseinheit vor seinem 15. Halbfinale bei den French Open eine Stunde vor Zverev und nur im Beisein von einigen wenigen spanischen Reportern, die Nadals gewohnt hohe Intensität verfolgen durften.
Die knappe halbe Stunde, die sich zwischen den beiden Kontrahenten überschnitt, konnte Zverev zumindest aus der Ferne hören. Lautes Stöhnen und lange Ballwechsel eines bald 36-Jährigen– auch am Ende einer fast 90 minütigen Einheit nach fast zwei Wochen ausuferndem Grand-Slam-Tennis. Will der Deutsche gegen den Rekordsieger in Paris (13 Titel) am Freitag eine Chance haben, darf er sich vom Narrativ, Nadal sei gehandicapt und nicht bei voller Leistungsfähigkeit, nicht täuschen lassen.
Nadal und das Müller-Weiss-Syndrom
Noch am 12. Mai hatte sich Nadal mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Centre Court von Rom geschleppt. Er verlor gegen den Kanadier Denis Shapovalov. Nadal hat bereits im Jahr 2007 angegeben, dass er am sogenannten Müller-Weiss-Syndrom leidet, bei der Knochengewebe des Kahnbeins am Fußskeletts abstirbt. Sein Onkel und früherer Trainer Toni Nadal erklärte 2018 bei einer Presserunde in München, dass er das Problem anfangs mit Einlagen bekämpft habe. Die spanische Zeitung "Marca" berichtet nun, die Einlagen führten zu einer anderen Belastung und Knieproblemen. Das über die Jahre ständige Ignorieren der Signale des Körpers führe nun zu Konsequenzen. Davon zu sehen und zu spüren, ist bei den Jahreshöhepunkten aber nichts.
2021 musste der Spanier seine Saison im August abbrechen und präsentierte sich seinen Fans noch im September auf Krücken. Anfang Februar 2022 krönte er sich trotzdem nach einer furiosen Aufholjagd zum Champion bei den Australian Open und zum alleinigen Grand-Slam-Rekordsieger mit 21 Titeln - in einem Match über fünf Sätze gegen den knapp zehn Jahre jüngeren Daniil Medvedev.
Djokovic über Nadal: "Nicht das erste Mal, dass er das macht"
Ähnlich war es vor den French Open: Vor dem Turnier bekannte er, er habe viel gelitten, aber es gehe ihm besser: "Ich sehe mich selbst hier aber nicht als Favorit." Dann besiegte Nadal im Achtelfinale den fast 15 Jahre jüngeren Felix Auger Alliassime in fünf Sätzen und zeigte nur zwei Tage später keinerlei physischen Schwächen gegen die Nummer Eins der Welt, Novak Djokovic.
Dass Nadal sich schmerzfrei präsentierte, überraschte nach ihrem 59. Duell auch Djokovic nicht: "Ich habe bei ihm keine Probleme gesehen", sagt der Serbe im Interview mit der Sportschau. Eine Nachfrage unterbrach er und erklärte: "Ich bin überhaupt nicht überrascht. Es ist nicht das erste Mal, dass er nur wenige Tage nach einer Verletzung, bei der er kaum laufen kann, wieder 100 Prozent fit ist. Er hat das viele Male in seiner Karriere getan."
Nadal über Privatarzt: "Dinge tun, die helfen"
Nadal erklärte in seiner Presserunde nach dem Match: "Ich habe in Rom gesagt, dass ich hier in Paris wieder meinen Arzt bei mir haben werde. Dass man Dinge tun kann, die dagegen helfen, wenn er dabei ist. Aber es ist nicht der Moment, darüber zu sprechen."
Die "Marca" berichtet, Nadals Arzt Angel Ruiz Cotorro, der seit den Olympischen Spielen 1992 für den spanischen Tennisverband arbeitet und davor auch im katalanischen Radsport tätig war, habe Nadal Garantien gegeben, die zwei Wochen von Paris durchhalten zu können. Ein Lösungsansatz sollen entzündungshemmende Mittel sein; ein anderer: schlichte Betäubung. Cotorro begleitet Nadal in Paris täglich. Wahrscheinlich ist, dass Nadal die gesamte Rasensaison auslassen wird. Auch eine längere Auszeit steht zur Debatte.
Trotz allem steht Zverev am Freitag ein voll einsatzfähiger Nadal gegenüber, der beste Spieler, der auf Sand jemals gespielt hat. 27 Spieler haben in der Geschichte 110 Siege oder mehr bei den vier großen Turnieren erreicht. Nadal hat das allein in Paris vorzuweisen. Neben Zverevs guten Vorleistungen kann dem Deutschen der Blick auf die Trainerbank mutmachen. Sergi Bruguera, seit Februar in Zverevs Team, ist aktuell spanischer Davis-Cup-Kapitän und coachte Nadal 2018 bei der Partie gegen Deutschland in Valencia. Nadals damaliger Gegner: Alexander Zverev, der chancenlos blieb. Im direkten Vergleich führt Nadal mit 6:3.
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