Album der Woche:
Erinnern Sie sich noch an die Geschichte des Mannes aus Utah, der vor zwei Jahren einen angeblich 1999 gekauften McDonald’s-Hamburger ohne größere Verwesungsspuren präsentierte ? Ein Wunder der Konservierung (oder der Konservierungsstoffe, urks).
Ein bisschen so ist es auch mit den verschollenen, vergessenen oder verlegten Alben, die beim kanadischen Rock-Veteranen Neil Young in der Speisekammer lagern, wahrscheinlich genauso warm und trocken wie der olle Burger. In seiner losen Folge von Archiv-Veröffentlichungen holt der 76-Jährige jetzt endlich »Toast« aus dem Brotkasten, ein Album mit sieben Stücken, das er im Jahr 2000 im gleichnamigen Studio in San Francisco zusammen mit seiner altgedienten Band Crazy Horse aufnahm, dann aber zu desolat fand: »Toast war so traurig, dass ich es nicht herausbringen konnte«, schrieb Young bereits letztes Jahr auf seiner Webseite .
Er legte die Aufnahmen ins Regal und heuerte stattdessen die legendäre Stax-Band Booker T. & The M.G.s an, mit der er dann 2002 das Soul-artige Album »Are You Passionate« veröffentlichte. Von Crazy Horse war nur noch »Poncho« Sampedro dabei, dafür aber vier Songs aus den »Toast«-Sessions, die zum Teil andere Namen trugen, darunter »Quit (Don’t Say You Love Me)« und »Goin' Home«. »Are You Passionate« gehört nicht zu den experimentellen Glanzstücken Youngs wie beispielsweise »Le Noise«, fällt aber auch nicht in die Rubrik der, äh, interessanten Irrläufer (»Trans«, »Re-ac-tor«, etc.). Am ehesten bleibt es wohl für den nach dem 9/11-Schock geschriebene Mobilisierungs-Funk »Let’s Roll« in Erinnerung.
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Zwei Jahre zuvor in San Francisco war von nationalem Trauma noch keine Rede. Neil Young hatte Kummer in seiner Ehe mit Langzeit-Gattin Pegi und kaum noch Hoffnung, dass die beiden die Kurve kriegen würden, schrieb er 2021. Die Scheidung erfolgte dann aber erst 2014, Pegi verstarb 2019. Nach »Homegrown« (über die damals bevorstehende Trennung von Schauspielerin Carrie Snoddgress) ist »Toast« also nun das zweite Archiv-Album, das Youngs seelenvollste Liebeskummer-Songs enthält – und es ist auf ganz ähnliche Weise herausragend. Auch nach 22 Jahren im Regal wirkt die kaum zerfaserte oder niederknüppelnd traurige, sondern trotzig beschwingte Musik kein bisschen altbacken.
Das liegt einerseits Young selbst, der im nervösen Falsett-Gesang einmal mehr beweist, dass er ein begnadeter Soul-Crooner ist, aber auch an Crazy Horse, neben »Poncho« aus Bassist Billy Talbot sowie Drummer und Perkussionist Ralph Molina bestehend. Youngs vertraute Band, nach den revitalisierenden Alben der Neunzigerjahre in bester Form, zeigt sich streckenweise Vibe-versierter als die ehrwürdigen M.G.s, die später zu dem Material kamen und nicht die offenbar spezielle Atmosphäre im Toast-Studio nachfühlen und umsetzen konnten. Das kommt vor allem bei »How Ya Doin?« zum Tragen: Youngs hochtönender Gesang ist berührender als das heisere Fossie-Bär-Grummeln in den Strophen auf »Are You Passionate?«, wo das Stück »Mr. Disappointment« heißt. Das weniger tighte, eher jingle-jangelnde Ambiente, das die Band setzt, passt auch besser zur resignativen Grundstimmung des gesamten Albums, der Song wird auf »Toast« aber auch nochmal eineinhalb Minuten länger in die Tristesse geschrammelt und gegniedelt.
Drei Songs des Albums sind bisher unveröffentlicht: »Standing in the Light of Love«, auf einem Deep-Purple-haften Riff reitend, und »Timberline«, die Geschichte eines Holzfällers, der seinen Job verliert und sich an Jesus wendet, sind kurze, aber kraftvolle Crazy-Horse-Nummern, bemerkenswert wird es erst beim zehnminütigen »Gateway of Love«: Das Stück, vielleicht inspiriert von der damals absolvierten Südamerika-Tournee, klingt wie ein zu schnell abgespielter Santana-Song im leichten Bossa-Rhythmus. Die Gitarrenmotive wollen manchmal in die Melodien zu »Like a Hurricane« wechseln, driften dann aber doch weiter, in weniger stürmische Gefilde: »If I could just live my life as easy as a song/ I’d wake up some day and the pain would all be gone«, singt Young mit der ergreifenden Stimme eines Ertrinkenden: »Help me now, I’m sinking fast/ I gotta get along to the gateway of love.«
Essentiell wird »Toast« aber durch das 13 Minuten lange »Boom Boom Boom«, vier Minuten länger als das funky-straffe M.G.s-Derivat »She’s a Healer« : Wieder schlängelt sich ein lateinamerikanischer »Black Magic Woman«-Groove hindurch, gepaart mit dem rammdösigen Quaaludes-Blues der Doors. Die Offenheit des immer wieder störrisch verstolperten Arrangements ist umwerfend. Ein paar verspielte Jazz-Piano-Figuren tänzeln hindurch, eine Trompete tutet gemächlich zwischen die zahlreichen Young-Soli, irgendjemand scheint freispielend auf leeren Suppen- oder Tabakdosen herumzutrommeln. Es ist ein experimenteller, fast zum Jazz greifender Schamanen-Groove. »That blue-eyed woman« mag ein Mysterium für ihn bleiben, singt Young, aber sie ist auch seine Heilerin, ohne sie ist er Geschichte: »There ain’t no way I’m gonna let the good times go«, beschwört Neil Young seine Rock’n’Roll-Aura – und seine große Liebe – im Refrain. Still knusprig after all these years. (7.8)
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Kurz abgehört:
Gwenno – »Tresor«
In Zeiten der andauernden Pandemie und Reisebeschwernisse wird das Regionale ja wieder wichtiger, heißt es. Die aus Wales stammende Sängerin und Musikerin Gwenno Saunders verfasst die Texte zu ihrer bezaubernden Musik seit einiger Zeit im fast ausgestorbenen Kornisch, der alten Sprache Cornwalls am südwestlichen Zipfel Englands. Man versteht kein Wort, klar. Angeblich geht es in Stücken wie »Tresor« um Feminismus, in »N.Y.C.A.W.« um Gentrifizierung. Gwenno ist aber keine auf Folklore-Revivals aufspringende Elfe (außer in »Kan Me«), sondern lässt im Titelstück Sixties-Soulpop perlen, im siebenminütigen »Ardamm« entfesselt sie einen Krautrock-Groove, zu dem sich vortrefflich über die schmalen Küstenstraßen zwischen Bude und St. Ives cruisen ließe. Ein bisschen Mystik schwingt natürlich auch mit in diesem pulsierenden, von Rhys Edwards hochglänzend produzierten Psych-Prog-Folk. Das nächste Konzert bitte unter dem Wasserfall in St. Nectan’s Glen. Cornwall-Kenner wissen, wo das ist. (7.7)
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Wu-Lu – »Loggerhead«
Hu, nein: Wu, die Neunziger sind wirklich zurück! Diesmal mit jenen Dub-verschleppten oder allzu hektischen Beats, Jazz-Figuren und in den Klangnebel hineingerufenen oder gemurmelten Botschaften, die man noch von Bands wie Consolidated oder Soul Coughing kennt. Man könnte es Trip-Hop-Crossover nennen, was der aus Südlondon stammende Wu-Lu, eigentlich Miles Romans-Hopcraft, auf seinem Debüt zusammengebastelt hat, aber: alles viel zu nostalgisch belastete Begriffe, die dieser sehr aufregenden, unterschwellig extrem angespannten Großstadt-Musik nicht gerecht werden. Wenn es, wie im zentralen »South« um den Gentrifizierungs-Niedergang südlich der Themse geht, lässt Wu-Lu auch mal einen Skate-Punk-Metal-Schrei los oder eine Insane Clown Posse durchs Video von »Scrambled Tricks« hetzen. Letzteres gehört neben dem atemlosen »Road Trip« zu den besten Stücken des immer wieder radikal anders klingenden, aber immer drückenden, pulsierenden Albums: nervöser Bass, Industrie-Geräusche, ständige Tempowechsel, als drängele man sich mit wachsender Menschenverachtung am Sonnabendnachmittag durch zu viele dusselig herumschlendernde Touristen zum Pub – auf ein Pint und ein paar Rühreier gegen den Hass. (8.0)
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Nick Cave & Warren Ellis – »7 Psalms«
Fleißigen Lesern seiner »Red Hand Files« dürfte die Hinwendung Nick Caves zu einer gewissen Frömmigkeit nicht entgangen sein. Schon »Ghosteen«, das vorletzte große Album, war eine Übung in spiritueller Achtsamkeit, anders als früher, als Cave mit Gott und der Welt haderte und in seinen Texten vor allem alttestamentarischen Furor bemühte. Nun also ein Mini-Album mit sieben ganz privaten Gebeten. Gesprochen, nur begleitet von sakral verhallenden Chören und elektronischen Ambient-Klangsphären seines musikalischen Direktors Warren Ellis. Und why not? BesucherInnen der jüngsten Konzerte des 64-jährigen, manche wurden sogar zärtlich über den Kopf gewuschelt, berichten ohnehin wie von einer heiligen Messe, bei der Hohepriester Cave salbende Verse singt und plötzlich ganz nahbar in der Menge badet. Geschrieben wurden die Psalmen schon 2020, bevor mit Jethro Lazenby im vergangenen Mai ein weiterer Sohn von Nick Cave tragisch verstarb. Der persönliche Gram verleiht den Texten berührende Schwermut, wenn er mit Grabesstimme Fatalistisches vorträgt: »Such things should never happen… but they do«. Am Ende, bevor die Gemeinde noch mal andächtig ein Viertelstündchen lang den Instrumentalversionen lauschen kann, gibt sich der einst wild über Mörder, Lustmolche und Sünder bellende Beelzebub einsam in die Hände Gottes: »I have nowhere left to go/ But to you, Lord/ Breathless, but to you.« Amen. (7.5)
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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)
Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).
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