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Architekt über Zukunft nach Corona: “Wir müssen die Stadt umbauen” - RND

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Herr Krückeberg, Sie kommen aus Hannover, haben in Braunschweig und Los Angeles studiert. Ihr Architekturbüro Graft arbeitet weltweit und ist nicht nur durch die Zusammenarbeit mit Brad Pitt etwa für die Opfer des Wirbelsturms “Katrina” berühmt geworden. Stimmt es, dass Sie und Ihre Partner Wolfram Putz und Thomas Willemeit sich nicht beim Studium, sondern beim Singen im Chor kennengelernt haben?

Sowohl als auch. Wir kennen uns seit dem ersten Semester und haben in Braunschweig viele Projekte neben dem Studium gestartet, unter anderem einen A-cappella-Chor. Mit dem Chor haben wir auch einmal zur Eröffnung des Deutschen Pavillons bei der Architekturbiennale in Venedig gesungen.

Zur Eröffnung des Pavillons, den Sie selbst als Büro 2018 kuratiert haben?

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Ja, aber das war schon in den Neunzigern. Chorisches Singen setzen wir mit guter Teamarbeit gleich: Man muss zuhören und sich einpassen können. Im Gegensatz dazu wurde uns im Studium vermittelt, dass man als Architekt Einzelkämpfer ist. Hier sind wir allerdings anderer Meinung. Deswegen heißen wir auch nicht Putz Willemeit Krückeberg, sondern Graft. Grafting ist ein englischer Begriff aus dem Weinbau und bezeichnet das Pfropfen, das Zusammenführen unterschiedlicher Pflanzen zu einer neuen, leistungsstärkeren Sorte. Für uns ist das eine Denkweise, vermeintliche Gegensätze zu verbinden.

Corona hat jetzt auch zum Nachdenken geführt: Müssen wir im Urlaub bis nach Thailand fliegen? Wollen wir das mit dem Konsum so weitermachen? Was meinen Sie: Hat das Auswirkungen auf die Geschäftswelt?

Wenn wir uns auf das Thema Einzelhandel fokussieren, beobachten wir seit Jahren das Retailsterben, auch aus den Blickwinkeln unserer Büros in Los Angeles oder China. Gerade in Amerika entwickeln sich die Shoppingmalls zu gigantischen Problemen, egal ob innerstädtisch oder außerhalb. Das Einkaufszentrum, der Riesensupermarkt oder Kaufhäuser wie Karstadt-Kaufhof: Diese Konzepte sind gefährdet, da der Onlinehandel den stationären Handel überholt.

Was hat dieser Wandel zur Folge?

Wir erkennen hier vor allem ein städtebauliches Problem und sehen den sogenannten Donut-Effekt: außen ein Speckgürtel und innen monofunktionale Stadtzentren. Die amerikanische Architekturkritikerin Jane Jacobs hat schon in den Sechzigern gesagt: Eine vitale, gesunde und attraktive Stadt braucht lebendige Erdgeschosszonen und die Verbindung vom Haus zur Straße: the walkable city. Diese Zonen gilt es zu beleben, um wieder Lust auf das Flanieren zu machen. Corona hat diese Entwicklung, die ohnehin schon da war, ex­trem beschleunigt. Wir bekommen plötzlich Anfragen aus der Retailbranche: Habt ihr nicht eine Idee, wie wir es anders machen können?

Wie könnten Sie es anders machen?

Gerade ist der neue Bericht der Bundesstiftung Baukultur erschienen, in dem zu lesen ist, dass bereits 2018 mehr als 11 000 Läden bundesweit schließen mussten. Eine Prognose bildet ab, dass bis 2025 wohl 45 000 weitere Einzelhandelsgeschäfte aufgeben werden. Und diese Prognose stammt aus der Zeit vor Corona. Wir brauchen neue Ansätze, die das Verhältnis der Häuser zu den öffentlichen Zonen überdenken. Die Erdgeschosszonen sind der Marktplatz. Je aktiver dieser Bereich ist, desto eher kann eine Stadt überleben. Was helfen könnte, wäre die Mediterranisierung deutscher Innenstädte. Die Idee ist, den Außenraum attraktiver zu gestalten und zu aktivieren sowie einladende Grünräume zu schaffen. Wir haben mit Corona gelernt, wie viel es wert ist, wenn eine Stadt über diesen qualitätvollen Außenraum verfügt.

Aber das allein wird die Schließungen etwa von Kaufhof nicht aufwiegen.

Wir glauben an den urbanen Mix. Dazu gehört auch, die Fußläufigkeit zu stärken, was nur gelingen kann, wenn es für die Leute attraktiv ist, zu Fuß zu gehen und Angebote vor der Tür wahrzunehmen. Hier gilt es vor allem, die Monostrukturen aufzubrechen und neben dem Einzelhandel auch Dienstleistungen anzubieten. Gastronomie, Kleingewerbe, Handwerk und Kultur spielen eine Rolle. Ebenso das Thema Wohnen. Eine autofreie Innenstadt wäre ein wichtiger Schritt. Der Einzelhandel muss neue Angebote schaffen und sich gegenseitig unterstützen. Beispielsweise durch die gemeinsame Organisation eines Auslieferservices. Hier kann die Digitalisierung wiederum helfen.

Klingt nach einer riesigen Aufgabe.

Die Stadt hat als Bauherr und Planungsinstanz die Verantwortung, diese Entwicklungen anzuführen und unsere Innenstädte wiederzubeleben. Abriss und Neubau sind hierfür nicht immer die beste Lösung. Wir müssen umbauen. Stellen Sie sich einmal vor, dass aus einem leerstehenden Kaufhaus ein kleines Wohnviertel entstehen könnte.

Haben Sie so was schon gemacht?

Wir arbeiten in Berlin momentan an dem Umbau eines Shoppingcenters mit mehreren Etagen, das aufgrund seiner Bauweise sehr introvertiert ist. Zum einen wollen wir es baulich so verändern, dass mehr natürliches Licht in das Gebäude fällt, und zum anderen schlagen wir einen Mix aus unterschiedlichen Nutzungen vor: Im Unter- und Erdgeschoss bleiben die Einzelhandelsflächen erhalten und öffnen sich dort, wo es geht, idealerweise nach außen. Ab dem ersten Stock beginnen Flächen für Arztpraxen, Fitness und Büros. Darüber sind Einrichtungen für betreutes Wohnen, ein Kindergarten und Penthouses denkbar. Ein solches Vorhaben müssen die Stadt und Investoren allerdings gemeinsam angehen. Alleingänge werden in Zukunft nicht mehr funktionieren. Man sollte diese seltsame Zeit als Chance begreifen. Es ist wie beim Singen: Wer gut zuhört, kann sich besser einbringen und überraschende Harmonien erzeugen.




September 13, 2020 at 01:00PM
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