Das Leben ist kein Superheldencomic, das stellen die 16-jährige Kamala Khan (Iman Vellani) und ihr nerdiger Schulfreund Bruno (Matt Lintz) spätestens fest, als sie sich mit tollkühnster Fantasie ausmalen, wie sie es trotz Elternverbot schaffen können, zum großen Comic-Fanfest »Avengers Con« zu gelangen – und dann vorerst doch an Schwerkraft und Realität scheitern. Schon der elegant gedachte Sprung aus dem Kinderzimmerfenster im ersten Stock endet mit einem schmerzhaften Pardauz, weil der als Trapez dienende Ast am Gartenbaum abbricht. Statt sich akrobatisch von einer Brücke auf den Linienbus zu schwingen, bleibt Kamalas Fahrrad in der zuschnappenden Bustür hängen und muss zurückgelassen werden. Nicht sehr heldinnenhaft, aber lustig.
Die beiden schaffen es dann atemlos zu der Convention, wo Marvels Superhelden und -heldinnen gefeiert werden. Danach ist nichts mehr, wie es vorher war in Kamalas Teenagerleben im multikulturellen, aber auch beschaulichen Jersey City, es ist nämlich doch ein Superheldencomic: Bei ihrer Teilnahme an einem Cosplay-Wettbewerb für das beste Captain-Marvel-Kostüm stellt sie plötzlich fest, dass sie mit ihren Händen schillernde Energiewolken und Blitze erzeugen kann, die sich zunächst als amorphe, dann feste Gebilde manifestieren, bei größerer Konzentration und Kontrolle später dann auch als schlagfertige Riesenfäuste oder praktische Sprunginseln, auf denen sie sich in schwindelnden Höhen fortbewegen kann.
Teenager Kamala Khan: Plötzlich Superkräfte
Foto: Courtesy of Marvel StudiosEben noch schrieb Kamala in ihrem mit Marvel-Merchandise geschmückten Zimmer actionreiche Fan-Fiction über Captain Marvel und Iron Man und träumte sich in ein Universum der Superkräfte, jetzt, in den ersten, knallbunten und hyperquirligen Episoden der neuen Marvel-Miniserie »Ms. Marvel«, kann sie selbst bald in diesem illustren Heldenkreis mitmischen.
Davon dürfen nur ihre gutmütigen und protektiven, aber eben auch sehr konservativen Eltern nichts mitkriegen. Denn Kamala Khan ist nicht nur ein Fangirl und ein typischer, leicht verpeilter US-Teenager, sie ist auch Mitglied der pakistanisch-muslimischen Community. Sie muss mit Kopftuch in die Moschee zum Gebet (wo die Frauen mit schlechter Akustik von den Männern getrennt sitzen) und zum traditionellen Zuckerfest mit Dutzenden klatschhaft-rigorosen Verwandten, die Kamala spöttisch-respektvoll »illumi-aunties« nennt, Illuminaten-Tantchen. Superheldinnen? Tagträume von weiblicher Selbstermächtigung? Sind hier nicht vorgesehen.
Kamala (Iman Vellani) und Schulfreund Bruno (Matt Lintz): Tollkühne Cosplay-Fantasien scheitern an der Schwerkraft – vorerst
Foto: Daniel McFaddenDas galt auch lange für das Personal des Comicverlags Marvel, das über Jahrzehnte weitgehend männlich und weiß war: Spider-Man, Captain America, Iron Man, Thor und so weiter. Erst in den Siebzigerjahren wurden schwarze Helden wie Black Panther oder Luke Cage prominent, Frauen aber, egal welcher Herkunft, spielen bis auf wenige Ausnahmen bis heute eher Nebenrollen. Auch im erfolgreichen Marvel Cinematic Universe (MCU), wo erst vor Kurzem Heldinnen eigene Filme oder TV-Serien bekamen, darunter Black Widow und eben auch jene von Kamala Khan so glühend verehrte Captain Marvel. Brie Larson gibt die mit kosmischen Kräften ausgestattete Heroine im MCU als attraktive Blondine mit Modelmaßen, selbstbewusst, mächtig und feministisch veranlagt, aber eben auch eye candy für die vorrangig männliche Comicleserschaft.
Als die junge Marvel-Redakteurin Sana Amanat 2014 mit »Ms. Marvel« die erste Heftreihe mit den Abenteuern der Muslimin Kamala Khan etablierte und einen Sensationserfolg landete, eroberte sich der Comicgigant nicht nur einen bis dato missachteten Kulturkreis, sondern auch junge, weibliche Fans. So wie die inzwischen 19-jährige Schauspielnovizin Iman Vellani. Die Kanadierin mit pakistanischen Wurzeln erzählte in einem Interview, dass sie ihren allerersten Marvel-Comic, »Ms. Marvel« Nummer 19, einst nur deshalb erworben habe, weil eine Heldin mit der gleichen Hautfarbe wie sie darauf abgebildet gewesen sei, das hatte sie vorher noch nie gesehen. Wie ihre Serienfigur ist sie seit frühester Kindheit ein Comic-Nerd. Kamala, sagte sie kürzlich dem »Hollywood Reporter«, fühle sich »so sehr wie ich« an.
Gelungene Integrationsleistung
Vellani, die ihre Figur nicht als Size-Zero-Sexsymbol, sondern wie einen ganz normalen Teenager mit Komplexen, Problemzonen, Daueraufgeregtheit und altersgerechter Schusseligkeit verkörpert, ist das energische, stürmische Herz und die Seele dieser neuen Serie, eine echte Entdeckung. Ihr erster Auftritt im Kino ist bereits geplant, 2023 im Superheldenspektakel »The Marvels« an der Seite von Larson als Captain Marvel und anderen Stars des MCU. Doch zunächst erhält sie für ihren Kultur- und Zuckerschock fürs Marvel-Universum eine Probebühne beim Streamingdienst Disney+. Serienschöpferin und Autorin Bisha K. Ali, eine britische Comedienne, die bereits die Marvel-Serie »Loki« federführend schrieb, ist ebenfalls pakistanischstämmig – genauso wie Sana Amanat, die als Co-Produzentin über ihre einst autobiografisch gefärbte Figur wacht.
Zusammen bringen sie so viel detailreiche muslimische Kultur und ethnische Besonderheiten in das uramerikanische Comicgenre wie noch nie zuvor – eine gelungene Integrationsleistung für die lange wegen der Terroranschläge von 9/11 misstrauisch und rassistisch angegangene islamische Gemeinde in den USA. Denn Kamalas Eltern sind zwar die größten Hindernisse für den Teenager, der sich einfach nur austoben will, werden aber samt Glauben und Bräuchen nicht exotisiert, sondern sympathisch authentisch gezeichnet. Daddy Yusuf (Mohan Kapur) hat einen hinreißenden Auftritt, als er sich grün anmalt und sich in ein extra angefertigtes Hulk-Kostüm werfen will, halb Superheldendress, halb traditionelles pakistanisches Gewand. Mutter Muneeba (Zenobia Shroff) hält Kamalas Begeisterung für Captain Marvel zwar für unreif und unziemlich, zeigt aber auch Verständnis für den Freiheitsdrang ihrer Tochter.
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Die zeigt sich weniger schockiert und überrumpelt von ihren Superkräften wie vor Jahrzehnten der wohl berühmteste Teenagerheld von Marvel, Peter Parker alias Spider-Man. Kein Wunder, beschäftigt sich Kamala doch schon seit klein auf mit Comics und Superwesen, ein Generationenvorteil. Sie ist geflasht von den sich bietenden Möglichkeiten und stürzt sich furchtlos ins Training ihrer Fähigkeiten. Anders als in der Vorlage haben sie in der Serie nichts mit den Mutationen der sogenannten Inhumans zu tun und ermächtigen sie auch nicht dazu, sich selbst oder einzelne Gliedmaßen zu strecken oder riesengroß zu machen. Laut Marvel-Produzent passte dieses Narrativ nicht zu den größeren MCU-Plänen, in die »Ms. Marvel« integriert werden soll.
Vielleicht ist auch das ein Glücksfall, denn es erlaubt dem Autorinnenteam, Kamalas Superkräfte mit einem magischen, von der Großmutter vererbten Armreif noch tiefer in der politischen und mythischen Historie Pakistans zu verankern, wie sich bereits in der zweiten Folge zeigt.
Allzu viel Tiefgang darf man jedoch nicht erwarten: »Ms. Marvel« ist ein mit visuellen Gimmicks, liebevollen Cartoon-Animationen und viel klassisch amerikanischer Highschool-Dramatik ausgestattete Teenie-Party, auf der jedoch ganz selbstverständlich auch Hits von südasiatischen Pop-Acts wie Riz MC oder Raja Kumari gespielt und Shah Rukh Khans beste Bollywood-Filme diskutiert werden. So süß und reichhaltig wie ein Teller voller heiß frittierter Gulab-Jamun-Milchbällchen.
»Ms. Marvel«: Sechs Episoden, ab 8. Juni bei Disney+
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